6 bedenkenswerte Antworten auf schonungslose Fragen zu Kitsch, Design, DDR und kulturelle Identität, die Du Dir schon immer gestellt (und nie zu beantworten getraut) hast

Dr. Sebastian Loewe
8 min readNov 15, 2017

Dr. Sebastian Löwe ist seit Mai 2017 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Design an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft, Berlin. Seine Dissertation trägt den Titel „Als Kitsch ausgewiesen!“ und ist in diesem Jahr im Neofelis Verlag erschienen. Hier beantwortet er sechs Fragen dazu.

(1) Inwiefern kann kulturelle Identität ausgehandelt werden, so wie es der Untertitel Ihrer Publikation behauptet?

Man kann sich anschauen, welche normativen Ansprüche an nationale Identität in öffentlichen und professionellen Streits über Kunst und Design vertreten und ausgehandelt werden. Genau das habe ich getan und zwar am Beispiel der Kunst und des Designs aus der ehemaligen DDR. In allen Bereichen der Kultur, die ich untersucht habe, — der Bildenden Kunst, Architektur, dem Design, der Alltags- und Populärkultur und der Literatur — , zeigt sich ein rigoroser Kampf für eine Ausgrenzung des sozialistischen kulturellen Erbes. Man kann das auch einen Kulturkampf nach 1989 nennen, der dort mit dem Ziel einer Neuaushandlung von kultureller Identität geführt wurde. In der Politik und den Medien ging man davon aus, dass Werte aus dem untergegangenen System keinen Millimeter in der neuen –wohlgemerkt gesamtdeutschen– kulturellen Identität Platz haben sollten. Wie rigoros diese kulturelle Flurbereinigung durchgeführt wurden, zeigt der Blick auf den Kitsch. Dieser Vorwurf ist zentral in den feuilletonistischen Auseinandersetzungen nach 1989. Das Normative des Kitsch-Vorwurfs trifft sich dort kongenial mit dem skizzierten normativen Verständnis einer neuen kulturellen Identität, das von politischen und publizistischen Eliten vertreten wurde. An den Auseinandersetzungen im Feuilleton der letzten 25 Jahre kann man deutlich ablesen, dass ein normatives Kultur- und Identitätsverständnis durchgesetzt wurde. Zumindest aus Sicht der öffentlichen Meinung und der Politik sind die Unterschiede einer jeweils eigenständigen kulturellen Identität in Ost und West zum Verschwinden gebracht worden. Jetzt gilt eine gesamtdeutsche kulturelle Identität, die die Einheit des Volkes ideell stiftet. An diesem ausgehandelten Maßstab muss sich Kulturproduktion in Deutschland seit dem Kulturkampf messen lassen.

(2) Stichwort Kitsch: Gibt es einen Unterschied zwischen kitschigem Design und kitschiger Kunst?

Ich würde behaupten, im Wahrnehmungsverfahren unterscheiden sich beide nicht, „lediglich“ in Bezug auf die inhaltliche Ausrichtung des Kitsch-Vorwurfs gibt es Unterschiede. Diesen rätselhaften Satz muss ich natürlich erklären. Meine Studie ergab, dass der Kitsch nicht, wie man landläufig annehmen mag, eine sachliche ästhetische Eigenschaft der Dinge ist, die man lediglich benennt. Das Urteil, jenes Möbelstück oder diese Tapete sind kitschig, das ist ein Geschmacksurteil, und zwar eines, das sich meist aus außer-ästhetischen Quellen speist. Soll heißen, in der Regel liegen die Gründe, wieso Menschen das Kitsch-Urteil fällen außerhalb der ästhetischen Sphäre. Dann stört es beispielsweise, dass das Möbelstück seinen Wert nur vortäuscht, statt wirklich teure Materialien zu verwenden. Wieso stört das? Weil damit das wirklich teure Design entwertet wird. In der Regel wird mit Dieses-Design-ist-Kitsch-Urteilen die Verteidigung klarer ökonomischer und sozialer Hierarchien bezweckt, die im guten Geschmack und Design zur Anschauung gebracht werden.

Das Kitsch-Urteil wird auch zur Bewertung der Kunst verwendet. Man erwartet von ihr aber etwas mehr als vom Design. Sie solle nicht nur als Ausdruck des guten Geschmacks sein, sondern darüber hinaus auch noch Sinnstiftung betreiben. Mit anderen Worten, die Kunst soll der Gesellschaft, der Politik, der Ökonomie, kurz dem gesellschaftlichen Sein einen Sinn ablauschen. Das Design spricht man in der Regeln nicht als einen solchen Hort der höheren Werte an. Als Markenprodukt leiste das Design höchstens Sinnstiftung light, wenn es den Konsumenten Inspiration und Selbstverwirklichung verspricht. Der Kunst dagegen ist vorbehalten, die wirklich wichtigen Werte zu beherbergen. Solche Werte, die eine Gesellschaft ausmachen, aus der die Kunst stammt. Für das Kitsch-Urteil hat das Konsequenzen. Denn nun schleichen sich Politik, Ökonomie, Religion, Moral und Kultur in die Bewertung der Kunst. Dort, wo Kunst zu Kitsch erklärt wird, wird die Kunst fast immer an solchen politischen, ökonomischen, sozialen und ethischen Maßstäben gemessen. Diese Maßstäbe sind also kunstfremde und daher an die Kunst herangetragene Bewertungsgrundlagen. Nur werden sie im Kitsch-Urteil rhetorisch verschleiert und ganz der Kunst selbst als ihre ureigene Verfehlung vorgeworfen. Sie selbst sei dann süßlich, schwülstig, eben Kitsch.

(3) Wird das Kitsch-Urteil denn heute überhaupt noch vertreten in Zeiten der Auflösung von Hoch- und Popkultur bzw. des normativen Kunstbegriffs ?

Richtig, die Sphären der Hoch- und Populärkultur mischen sich kräftig durch, obwohl man kurioserweise mit ihrer Benennung auf einem fundamentalen Unterschied beharrt. Heute gibt es eine ganze Reihe von Spielarten des Ästhetizismus und solcher Strategien, die das, was als Kitsch gilt, künstlerisch verwerten und damit seine Bestimmung als ästhetisches Verbrechen relativieren. Ich glaube, in der Bildenden Kunst sehen wir immer noch die Ausläufer von dem, was in den 1990er Jahren Kitsch-Art getauft und mit der der Kitsch zur Kunst erklärt wurde. Jeff Koons ist immer noch sehr angesagt und seine Arbeitsweise hat sich nicht sehr geändert. Im Design gibt es mit dem Neo-Brutalismus seit einiger Zeit eine Bewegung der neuen Hässlichkeit, also ein Update des Bad-Taste-Phänomens. Es ist allerdings weniger, wie wir das noch in den 1990er Jahren bei Bad-Taste-Parties und Hawaii-Hemden beobachten konnten, ein Spiel der geschmacklichen Umdeutung des schlechten in den guten schlechten Geschmack. Sondern vielmehr eine ernstgemeinte Absage an allzu normiertes Grafikdesign, das man durch absichtliche Regelübertretung zu kritisieren versucht. Der gute schlechte Geschmack gilt hier als Alternative zum wirklich schlechten Norm-Geschmack.

Im Licht der Auflösungsdebatten von Hoch- und Populärkultur wurde allerdings irgendwie vergessen, dass es auch Phänomene gibt, die dieser Auflösung zuwiderlaufen. Das sind, wie man an den Kitsch-Debatten sieht, gar keine marginalen Erscheinungen. Es ist insofern eine neue Erkenntnis, zu der die Arbeit kommt, dass die Auflösung des normativen Kunstbegriffs gar kein allgemein durchgesetztes Phänomen ist. Es ist gar nicht so, dass in der Kunst und dem Design ein uneingeschränktes Anything-Goes gilt. Denn daraus ergäbe sich konsequenterweise, dass auch die sozialistische Kunst und das sozialistische Design ihre Berechtigung haben. In Bezug auf die politisch bewertete Kultur gilt ein solches Anything-Goes nicht; der seit 1989 wiedererstarkte Kitsch-Vorwurf steht quer zum oder einfach neben dem Diskurs der Auflösung eines normativen Kulturbegriffs. Neben der Freiheit des Designs und der Kunst, gar keine Gesellschaftsentwürfe zu vertreten, existiert seit der Wende also wieder ein normatives Kulturverständnis. Ein Verständnis, das in punkto nationaler kultureller Identität sehr klare Vorgaben macht. Das sieht man etwa an den Debatten über den Berliner Schlossplatz, das DDR-Design, über DDR-Filmkomödien, den Literaturstreit und seine Ausläufern oder den Weimarer Bilderstreit. Da werden immer verbindliche nationalkulturelle Werte eingeklagt, die die Kultur vertreten soll — und der Kitsch-Vorwurf ist für diese Anklage das passende rhetorische Mittel.

(4) Kitsch ist also ein rhetorisches Phänomen. Warum lehnt man ihn so rigoros ab?

Genau, ich habe ja gerade bereits ein bisschen das Wahrnehmungs- und Urteilsverfahren des Kitsch-Urteils angesprochen. Die Bewertung der Kunst und des Designs beruht im Kitsch-Urteil in der Regel nicht auf rein ästhetischen Maßstäben, sondern auf außer-ästhetischen, also politischen, ökonomischen, religiösen, moralischen und sozialen. Das macht den Kitsch zu einem rhetorischen oder besser noch diskursiven Phänomen, weil er sich aus diesen Diskursen speist und keine sachliche Eigenschaft der Dinge ist. Da Kritiker den Kitsch aber genau als diese sachlich ästhetische Eigenschaft fassen, also Kitsch als Scheitern der Kunst oder des Designs an ihren eigenen Maßstäben begreifen, stellen sie mit ihrem Urteil die eigenen Bewertungsgrundlagen nicht mehr zur Debatte. Sie rücken rhetorisch den im Kitsch-Verdikt angegriffenen ästhetischen Gegenstand ins Abseits, verteidigen und bestärken also die eigenen politischen, ökonomischen, religiös-moralischen, usw. motivierten Maßstäbe und entziehen sie darüber einer kritischen Debatte. Das kennt doch auch jeder, dem einmal Kitsch vorgeworfen wurde. Über die Maßstäbe für sein Urteil will derjenige, der das Urteil ausspricht keine Diskussion führen. Der bloße Verweis darauf, dass etwas Kitsch ist, soll schon genügen und ist auch als Schluss- und Machtwort gemeint. Das hat etwas sehr Rigoroses. So harmlos dieser Umgang im Privaten ist, so sehr entfaltet er seine Normativität und seinen Rigorismus in öffentlich geführten, medialen Debatten. Da wird mit dem Kitsch-Urteil der eigene weltanschauliche Standpunkt mit besonderer Härte und Vehemenz vertreten und durchgekämpft. Das kann man durchaus als problematisch bezeichnen — vor allem wenn es um eine nationalkulturelle Identität geht.

(5) Die Neue Leipziger Schule steht in der Tradition der Malerei, die aus der DDR stammt. Ist sie deshalb auch Kitsch?

Aus Sicht des Diskurses über den Kitsch ist das in doppelter Hinsicht nicht so. Die Maler der ersten Generation der Leipziger Schule galten und gelten nach 1989 gemeinhin nicht als Kitsch. Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und Werner Tübke nimmt man von dem Kitsch-Vorwurf aus, der den Rest der sozialistischen Malerei en gros ereilt. Die drei fasst man als ganz eigene Künstlerfiguren, die die sozialistischen Vorgaben des Bielefelder Weges in ihren Werken ein ganzes Stück weit subvertierten. Insofern sei deren Schaffen nur sehr bedingt als Auftragskunst und damit als wirklich sozialistische Jubelkunst zu begreifen.

Die Neue Leipziger Schule mit Galionsfiguren wie Neo Rauch lehnen sich zwar formal an die malerischen Traditionen ihrer Leipziger Lehrer an. Aber sie übernehmen nicht deren politische Inhalte, die man vielleicht für kitschig halten könnte. Was mich überrascht, ist wie unpolitisch die Neue Leipziger Schule im Vergleich zu ihren Lehrern ist. Neo Rauch unterstreicht in Interviews immer wieder die introspektiven Inhalte seiner Werke, die keine wahrnehmbare politische Agenda verfolgen. Insofern ist es im Fall von Rauch auch fraglich, ob er inhaltlich das Erbe eines Mattheuer oder Heisig antritt und das überhaupt will. Es ist fraglich, ob er deren Widerstand gegen den Sozialistischen Realismus mit der malerischen Tradition je übernommen hat. Insofern fällt die Neue Leipziger Schule aus dem Diskurs über den Kitsch der DDR. Eher schon wirft man ihm ‚biedermeierliche Harmlosigkeit‘ als Kitsch vor.

(6) Wie sieht denn der Kitsch der DDR im Bereich Design heute aus?

Es gab mit der Wende einen radikalen Bruch mit der Waren- und Design-Welt der DDR. Ein paar Produkte haben als Marken aus dem Osten überlebt, aber die meisten gingen zugrunde. Design und Produktqualität haben sich bei den Überlebenden in der Regel auch schnell dem marktwirtschaftlichen Standards der Verführung des Konsumenten angepasst. Insofern war eine Besinnung auf die Konsumkultur der DDR als Inspirationsquelle des eigenen Lifestyles — im Unterschied zu einer als ostalgisch gebrandmarkten Praxis — vor allem einer jüngeren Genreration vorbehalten. Diese hat die DDR nur als Kinder erlebt und sie in den 1990er Jahren zum Kult erklärt. Man trug Ampelmännchen-T-Shirts und trank Vita-Cola statt Coca-Cola. Begriffen wurde dieser kultige Umgang mit dem entfernten kulturellen Erbe allerdings als harmloser Spaß, als ästhetizistische Geste und unpolitisches Statement. Im krassen Gegensatz dazu wurden solche Praxen mit dem Ostalgie- und Kitsch-Vorwurf versehen, die von einer älteren Generation mit der Absicht der Aufwertung der eigenen DDR-Biografie gepflegt wurden. Weil Ostdeutsche im neuen Deutschland nicht als „Bürger 2. Klasse“ gelten wollten, werteten sie ihr Privatleben in der DDR im Rückblick als moralisch einwandfreies auf. Das wurde als politische Geste der partiellen Begnadigung des DDR-Systems verstanden und rigoros als ostalgisch zurückgewiesen. Interessant ist, dass man auch hier wieder Design und Alltagskultur selbst als Auslöser solcher falscher Rückbezüge bespricht. Dann wird der blasse Eierbecher, das Sandmännchen oder der Trabant von sich aus zu einem Gegenstand, von dem eine verklärende Wirkung ausgeht.

Ich habe ja vorhin davon gesprochen, dass die Unterschiede einer jeweils eigenständigen kulturellen Identität in Ost und West zum Verschwinden gebracht worden sind. Jetzt hat man sehr deutlich gesehen, auf welche Art und Weise das diskursive Verfahren eines Verschwinden-Lassens funktioniert. Die apolitische Kult-Umdeutung des DDR-Designs lässt man als gesamtdeutsch gewähren, die ernstgemeinten Identitätspraxen einer partiellen kulturellen Identität wurden und werden als Kitsch bekämpft — und das betrifft nicht nur die Ostdeutschen.

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Dr. Sebastian Loewe

Professor for design & management at Mediadesign University Of Applied Sciences, Berlin, Germany.